LorgnetteLorgnette

Die Brille ist heute weit mehr als ein Korrekturglas, das Sehdefizite ausgleicht. Sie hat sich zum modischen Accessoire gemausert, das gut die Hälfte der Bevölkerung auf der Nase trägt,  und niemand würde heute noch wagen, eine Frau als „Brillenschlange“ zu titulieren. Erstaunlicherweise hat es aber lange gedauert, bis die uns so selbstverständliche Form der Brille gefunden wurde.

Das Wort Brille leitet sich von „beryll“ ab. Damit bezeichnete man im Mittelalter jede Form von klarem Kristall, der geschliffen als Vergrößerungsglas verwendet werden konnte. Zur besseren Handhabung erhielt er eine Fassung mit Stiel, aber bald gab es auch das durch einen Steg verbundene Doppelglas. Allerdings mussten solche Niet- oder Scherenbrillen mit der Hand gehalten werden, da sie keine Nasenflügel besaßen. Seit dem 16. Jahrhundert erprobte man verschiedene Konstruktionen, um die Brille im Gesicht zu befestigen. Doch weder Schläfen-, Faden- noch Stirnreifenbrillen lösten das Problem, sicheren Halt zu gewährleisten, ohne durch permanenten Druck Nase, Ohren oder andere Gesichtspartien in Mitleidenschaft zu ziehen.

Die Brille hatte Jahrhunderte lang kein besonders gutes Image. Sie galt als Kennzeichen von Gelehrten, die viel lesen, und als Attribut des Alters, in dem man die nachlassende Sehkraft ausgleichen muss. Um 1800 war das Einglas mit Stiel, das „monocle“ oder auch die doppelte Ausführung als „binocle“ ein modisches Accessoire der französischen Stutzer geworden. Diese Form war schon zu Zeiten Ludwig XIV. als „lorgnette“ bekannt. Die affektierte Haltung der Stutzer verlieh dem harmlosen Augenglas eine gesellschaftliche Funktion. Die Lorgnette konnte sehr bewusst zur Hand genommen und eine Person auffällig gemustert werden, was einem unausgesprochenen Misstrauen oder Tadel gleichkam. Carl Friedrich von Rumohr mahnte denn auch in seiner „Schule der Höflichkeit“ 1834, das „Lorgnettieren“ zu unterlassen, das anmaßend und herablassend wirke.

Unser Exemplar ist ein so genannter „Springer“. Der Nasensteg besteht aus einem biegsamen Metallstreifen und ist mit Scharnieren an der Fassung befestigt. Im Stiel sitzt eine Feder, die sich zurückschieben lässt, sodass man das äußere Glas dort einrasten lassen kann. Bei Bedarf, wenn die Feder betätigt wird, springt die Lorgnette in ihre eigentliche Gestalt. Bis weit ins 19. Jahrhundert blieb die Lorgnette ein Attribut von Tanten und Gouvernanten, die das Verhalten von Dienstboten und Heranwachsenden kritisch beäugten. Klemmer und Kneifer mit Nasenflügeln bzw. Brillen mit hinter den Ohren gebogenen Bügeln lösten die Stielgläser ab. Die Brille verschmolz zunehmend mit dem Gesicht und machte kritische Blicke ganz ohne Aufsehen möglich.