Musterkoffer •

Die Zeiten, als ein Vertreter an der Haustür klingelte und der verdutzten Hausfrau seine Waren anbot, sind lange vorbei. Während diese Form des Direktvertriebs an den Endkunden verschwunden ist, hat der Handelsvertreter in manchen Bereichen noch seine Berechtigung. Seit der Industrialisierung, als die Wirtschaft von der Kundenproduktion für den konkreten Bedarf auf die Massenproduktion übergegangen war, war der Beruf des „Reisenden“ als verbindendes Glied zwischen Produzent und Einzelhändler von großer Bedeutung. Dabei muss unterschieden werden zwischen dem selbständigen Handelsvertreter, der auf Provisionsbasis arbeitete, und dem beim Unternehmen angestellten Handlungsgehilfen, der als bezahlter Absatzhelfer die Händler abklapperte.

Unentbehrliches Hilfsmittel, um den Händler zur Bestellung zu motivieren, war der Musterkoffer. Übersichtlich und möglichst auch ansprechend gestaltet, sollte er die Ware in ihrem besten Licht erscheinen lassen. Zugleich musste er strapazierfähig sein, wenn der Vertreter ihn ständig mit sich führte. In diesem Fall handelt es sich um einen stabilen Holzkasten mit Griff, der ein ordentliches Gewicht darstellt. Sein Innenleben besteht aus acht bunt lackierten Rohren, die durch die Aufschrift ihre Herkunft und Zweckbestimmung verraten: Es sind Abschnitte von Fahrradrahmen der Firma Göricke aus Bielefeld.

1874 hatte der aus Sachsen-Anhalt zugewanderte August Göricke eine Nähmaschinenhandlung mit Reparaturbetrieb eröffnet. Schon bald kamen Fahrräder als weiterer Verkaufsartikel hinzu. Der Fahrradboom am Ende des 19. Jahrhunderts gab den Anstoß, dass Göricke 1897 selbst in die Produktion einstieg. Eine erste kleine Fabrik an der Bahnhofstraße reichte bald nicht aus, aber mit dem Erwerb eines Grundstücks auf dem damals noch unbebauten Areal an der Pauluskirche stand der Ausdehnung des Betriebs nichts mehr im Wege.

Görickes „Westfalenrad“ wurde bald zu einem Begriff, nicht zuletzt durch die Rennerfolge, die sich damit einstellten und intensiv für Werbemaßnahmen genutzt wurden. Während andere Bielefelder Fahrradhersteller meist zuerst Nähmaschinen gebaut hatten und an diesem Artikel festhielten, nahm Göricke Milchzentrifugen ins Programm auf und war auch auf diesem Gebiet erfolgreich. Unter seinem Sohn Arthur wurde das Unternehmen 1923 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, musste aber in der Weltwirtschaftskrise 1929 Konkurs anmelden. Zunächst erwarb ein niederländischer Investor die Firma, bis sie 1935 an Erich Nippel kam und einen neuen Aufschwung nahm.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, der an den Firmengebäuden schwere Schäden hinterlassen hatte, stieg die Erfolgskurve des Traditionsunternehmens, das auch vermehrt Motorräder und –fahrräder produzierte, steil an. „Göricke / über 85 Jahre“ ist auf den Rohren im Musterkoffer zu lesen, die sich dadurch auf etwa 1960 datieren lassen. Die farbenfrohen Lackierungen konnten jedoch die Krise nicht überdecken, die die deutsche Zweiradindustrie bereits erfasst hatte. Inzwischen war Richard Schminke als Teilhaber bei Göricke eingestiegen, wo Erich Nippel eine Kunststofffertigung als zweites Standbein aufgenommen hatte. Mitte der 1960er Jahre wurde die Firma aufgeteilt. Schminke behielt die Zweiradsparte, kaufte weitere Zweiradhersteller hinzu und verlegte schließlich 1975 seine Gesamtproduktion nach Löhne. Zehn Jahre später wurde das Areal an der Pauluskirche verkauft, die Fabrik abgerissen und durch Wohnbebauung ersetzt. Heute erinnert nur die Statue eines waghalsigen Hochradartisten an eine der wichtigsten Firmen der Bielefelder Zweiradgeschichte.