Ratsgestühl •
Dieses eindrucksvolle Schnitzwerk zählt zu den Gegenständen, die am Anfang einer Museumssammlung in Bielefeld standen. Als sich 1876 der Historische Verein für die Grafschaft Ravensberg gründete, verzeichnete der erste Jahresbericht sämtliche Archivalien, Bilder und Altertümer, die dem Verein bis dahin überlassen worden waren. Der „Ratsstuhl“ erscheint hier ebenso wie im Jahr 1890 in dem Führer durch die Sammlungen auf der Sparrenburg, wo der Verein erstmals Räumlichkeiten zur Präsentation gefunden hatte. Auf einem zeitgenössischen Foto bildet das Ratsgestühl den Mittelpunkt eines altarähnlichen Aufbaus im Burghof. Der Fotograf hat es oben mit Zweigen bedeckt und darauf drei Wappensteine zu einer kuriosen Pyramide vereinigt.
Das Ratsgestühl aus der Altstädter Kirche war sichtbarer Ausdruck der Tatsache, dass die Gleichwertigkeit der Menschen, wie sie das Evangelium predigt, auf Erden nicht existierte. In der vormodernen Ständegesellschaft waren ihre führenden Vertreter und Gruppierungen auch beim Gottesdienst durch besondere Kirchensitze herausgehoben. Mit Schranken, Brüstungen oder sogar als abgeschlossene, mit Fenstern und Türen versehene Einhausungen, die entsprechend geschmückt waren, verdeutlichten sie den Rang der Insassen. Der eigene Kirchensitz des Rates, auch Amtsstuhl genannt, ist dabei ein Spezialfall unter diesem in Norddeutschland als „Prieche“ bezeichneten Kircheninventar.
Die erhaltene Brüstung des Ratsgestühls teilen gewundene, mit Weinlaub belegte Säulen in drei Felder. Die äußeren Felder haben Rahmungen aus üppigem Blattwerk mit einem Engelskopf, die in der Mitte die Datierung „Anno 1701“ tragen. Im Zentrum befindet sich das Bielefelder Stadtwappen mit einer Krone darüber, die von zwei Löwen gehalten wird. Das barocke Schnitzwerk lässt sich der Werkstatt von Bernd Christoff Hattenkerl zuweisen, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Bielefeld ansässig war. Der Meister hatte schon vorher wichtige Aufträge für Kirchenausstattungen erhalten und sich „in dieser Kunst bewehrt“, wie es in den Quellen heißt. Für die reformierte Kirche auf der Sparrenburg fertigte er die Brüstungen für die Empore und Kirchenbänke. Als die reformierte Gemeinde 1681 in die Süsterkirche umzog, wurde das Inventar vom vorherigen Standort zum größten Teil übernommen. Zur selben Zeit erhielt Hattenkerl den Auftrag, die Kanzel für die Neustädter Marienkirche zu schnitzen. Alle genannten Werke zeigen einheitliche Dekorationsformen und eine stark plastische Auffassung, die sie als verwandte Arbeiten einer Werkstatt kenntlich machen.
Der Innenraum der Altstädter Kirche wurde 1847-49 nach einem Plan des Berliner Baurats Stüler völlig umgekrempelt. Das alte Gestühl verschwand, die „goldene Prieche“ an der Nordseite des Langhauses wurde entfernt, aber zumindest ihr Schnitzwerk als Brüstung für die Orgelempore weiterverwendet. Zahlreiche Epitaphien von bedeutenden Persönlichkeiten, die im Chor ihren Platz hatten, sah man als unnötigen Ballast an. „Wenn damals schon der Historische Verein bestanden hätte, würde eine solche Zerstörung nicht vorgekommen sein“, schrieb der Kantor Karl Grovemeyer 40 Jahre später. Immerhin hat die Brüstung des Ratsgestühls überlebt und kann heute im Historischen Museum bewundert werden.