Taktstock •

Ein heutiger Taktstock ist recht unscheinbar und doch folgt seinen Bewegungen ein ganzes Orchester, wenn der Maestro (und ganz vereinzelt, aber immer häufiger, die Maestra) den Einsatz gibt. Die Stellung des Dirigenten lässt sich durchaus mit der eines anderen Stabträgers, des Feldherrn, vergleichen und mancher Dirigent soll ähnlich befehlsgewohnt agiert haben. Dabei wurde der Dirigierstab erst im Lauf des 19. Jahrhunderts zum Werkzeug und Abzeichen des Orchesterleiters. In Deutschland war es vorher üblich, einfach Notenpapier zu rollen und mit dieser Rolle in der Hand die Musiker zu führen. In Frankreich waren am Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. lange massive Stäbe in Gebrauch, mit denen der Takt auf dem Boden gestampft wurde. Diese Sitte wurde dem Komponisten Jean-Baptiste Lully zum Verhängnis, der sich beim Konzert den Stab heftig auf den Fuß stieß. Die Verletzung entzündete sich und er starb später an Wundbrand.

Mit den leichten dünnen Stäbchen, wie sie heute in Europas einziger Taktstockmanufaktur im sächsischen Markneukirchen hergestellt werden, hat unser Exemplar wenig zu tun. Zwar entspricht die Länge von 35 cm den modernen Beispielen, es handelt sich jedoch augenscheinlich um einen Repräsentationsgegenstand. Als Ehrengeschenk für den Dirigenten, das ihm von seinem Orchester oder Chor oder auch von Bewunderern aus dem Publikum gewidmet wurde, wandelte sich der Taktstock zum kostbaren Accessoire, das aus wertvollen Hölzern, Elfenbein und Edelmetall gefertigt sein konnte.

Von solchen Preziosen ist der vorliegende Stab allerdings doch entfernt. Er besteht aus schwarz lackiertem Holz, die zylindrischen Metallbeschläge mit Blattwerkdekor sind nur versilbert. Das Griffstück trägt die Gravur „Ihrem Dirigenten Aug. Riechling / 14.12.1882 / Gesang-Abth. Bielef. L. u. R. Verein“. Der Landwehr- und Reservistenverein war ein Zusammenschluss gedienter Soldaten, die nicht im Kampfeinsatz gewesen waren. Während sich die Kriegsteilnehmer von 1864, 1866 und 1870/71 in Krieger- und Kampfgenossenvereinen zusammentaten und ihre patriotische Gesinnung pflegten, stand bei dem Landwehr- und Reservistenverein offenbar der gesellige Aspekt mehr im Vordergrund, sonst wäre nicht 1881 eine Gesangsabteilung gegründet worden.

Die Gründung fällt in eine Zeit, als die Männergesangvereine nicht nur in Bielefeld wie Pilze aus dem Boden schossen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg existierten in der Stadt nicht weniger als 40 solcher Vereinigungen. Das 19. Jahrhundert brachte die Laienmusik zur Blüte, die Teilhabe – aktiv wie passiv – an musikalischen Darbietungen löste sich aus dem engen Zirkel der gesellschaftlichen Oberschicht. In der Zeit des Vormärz und nach der gescheiterten Revolution von 1848/49, als der Staat jede Vereinsgründung genehmigen musste und argwöhnisch überwachte, boten Gesangsvereine zudem die nach außen unpolitische Möglichkeit, sich mit Gesinnungsgenossen unverdächtig zu treffen. Große überregionale oder sogar nationale Sängerfeste sorgten für Austausch unter den Ländern des Deutschen Reiches und stärkten das Nationalbewusstsein. So stellt unser Taktstab auch ein Zeugnis der differenzierten bürgerlichen Musikkultur in Bielefeld im Kaiserreich dar, unabhängig davon, wie der Gesang der Herren vom Landwehr- und Reservistenverein geklungen haben mag.