Reservistenflasche
Mit dem Ende der Bundeswehr als Wehrpflichtigenarmee ist eine Form der Andenkenkultur verschwunden, die früher eine große Bedeutung hatte: die Erinnerungsstücke an die Dienstzeit. Gerade die bunten und aufwändig gestalteten Reservistica aus der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg zeigen die Zwiespältigkeit von Lust und Frust des Soldatendaseins in Friedenszeiten.
In Bielefeld waren seit dem frühen 18. Jahrhundert dauerhaft Soldaten stationiert. Nach den Napoleonischen Kriegen stand hier ein Bataillon des Infanterie-Regiments Nr. 15. Bei der preußischen Heeresreform 1860 gingen Teile in dem neu gebildeten Infanterie-Regiment Nr. 55 (6. Westfälisches) auf, dessen 2. Bataillon 1877 nach Bielefeld verlegt wurde. Die alte preußische Kaserne in der Hans-Sachs-Straße, die noch Friedrich der Große errichten ließ, war sein Standort. Als Exerzierplatz diente der Kesselbrink, für Truppenübungen das Sennelager zwischen Bielefeld und Paderborn. Die Dienstzeit im Heer betrug zunächst drei Jahre, wurde aber 1893 für die Infanterie und die fahrenden Truppen auf zwei Jahre verkürzt. Für Wehrpflichtige mit höherer Schulbildung gab es die Möglichkeit, sich freiwillig zu einem Truppenteil nach Wahl zu melden und bereits nach einem Jahr zur Reserve abzugehen.
Zu den Erinnerungsstücken, die je nach Geldbeutel für den Reservisten unabdingbar waren, zählten Bierkrüge, lange Gesteckpfeifen, Schnapsflaschen und ein Foto in Paradeuniform im Kreise der Kameraden. Krüge, Flaschen und Pfeifenköpfe aus Porzellan oder Steingut trugen einen farbigen Umdruckdekor mit vertrauten Sprüchen und Liedern aus dem Soldatenleben. Diese massenhaft hergestellten Erzeugnisse hielten Leerstellen bereit, an denen der jeweilige Name des Reservisten und seine Dienstzeit beim Kauf niedergeschrieben wurden. Billig waren solche dekorativen Artikel nicht, ein Reservistenkrug kostete rund 20 Mark.
Die Schnapsflasche aus Porzellan schützt eine Einfassung aus Weißmetall. Die Schraubkappe mit dem unverzichtbaren Adler kann praktischerweise als Becher verwendet werden. Im Zentrum steht die rote Regimentsnummer 55, gerahmt von vier comicartigen Szenen. Das Wachestehen vor dem Schilderhaus, Abschied von dem geliebten Mädchen oder der Mutter sowie Trinken und Feiern mit den Kameraden tauchen in vielen Fällen auf. Auf der anderen Seite ist eine andere beliebte Szene zu sehen. Der Soldat reitet auf einem Ziegenbock davon, der Feldwebel ruft ihm aus dem Fenster zu: „Wohin, Reservist?“ „Nach Haus, Herr Feldwebel, zur Mutter, da giebts besser Futter.“ Eine Frau versucht das Reittier am Schwanz festzuhalten, aber der Soldat ruft: „Bock, reiß aus, das Mädchen will mit nach Haus“ – ein Hinweis auf die Tatsache, dass die Dienstzeit in einer fremden Stadt für viele Wehrpflichtige auch die Gelegenheit war, sich „die Hörner abzustoßen“. Mit dem Ersten Weltkrieg war die Tradition der bunten Reservistica abrupt zu Ende.