Scherenschnitt ·
Schattenspiele sind leider völlig aus der Mode gekommen, obwohl sie ohne den geringsten Aufwand Groß und Klein viel Vergnügen bereiten können. Die Freude am Schattenbild, dem eigenen und jenem fremder Personen, hatte in der Goethezeit ihre höchste Ausprägung. „Kein Fremder zog vorüber, den man nicht abends an die Wand geschrieben hätte“, berichtet der Dichter im November 1792.
Diese Begeisterung hatte mehrere Ursachen. Im Hintergrund stand eine Geschichte, die der römische Autor Plinius erzählt. Danach soll die Tochter des Töpfers Dibutades in Korinth die Umrisse ihres scheidenden Geliebten bei Kerzenschein an einer Wand festgehalten haben. Dieses Motiv wurde in der Malerei des 18. Jahrhunderts, die sich nach der Entdeckung von Pompeji und Herculaneum zunehmend an der Antike orientierte, aufgegriffen. Es gehörte also nur ein gewisses Zeichentalent dazu, ein lebenswahres Umrissporträt herzustellen. Der Gießener Professor Höpfner erleichterte den Vorgang, indem er eine Vorrichtung zum Nachzeichnen des Schattens auf transparentem Papier erfand. Dieses Schattenbild konnte anschließend mit einem Pantographen beliebig verkleinert werden. Zum regelrechten „Hype“ wurden die Schattenrisse durch den Schweizer Theologen und Schriftsteller Johann Caspar Lavater (1741-1801). In seinem Hauptwerk „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ von 1775 machte er sich anheischig, den Charakter eines Menschen von seiner Profilansicht ablesen zu können. Goethe interessierte sich sehr für Lavaters Studien. Von seinem Kreis in Weimar ausgehend entwickelte sich das Deuten von Schattenporträts rasch zum Gesellschaftsspiel.
Viele Schattenbilder wurden in Tusche ausgeführt, aber ebenso auch mit der Schere aus schwarzem Papier geschnitten. Ein solcher Scherenschnitt liegt bei unserem schönen Familienbild vor, das 1791 datiert ist. Die Kleidung deutet auf eine wohlhabende bürgerliche Familie hin und ist bis in die filigranen Spitzenbesätze detailliert wiedergegeben. Dennoch zeigen sich einige Unbeholfenheiten in der Darstellung, die auf einen geübten Dilettanten hinweisen. Obendrein ist sie nicht aus einem Stück Papier geschnitten, sondern aus mehreren Teilen montiert. Die Arbeiten von professionellen Scherenschnittkünstlern erreichten noch höhere Qualität.
Links am Tisch sitzt Philipp Wilhelm Buddeberg (1755-1796), der als Kaufmann in Lippstadt lebte und Schokoladen produzierte. Zu den beiden Kindern auf dem Bild kam ein Jahr später der Sohn Friedrich hinzu, der 1807 in Bielefeld eine Lehre in dem Manufakturwarengeschäft von Johann Delius begann. Zwanzig Jahre später eröffnete er in der Niedernstraße einen eigenen Laden, aus dem sich ein großes Textilkaufhaus entwickelte, das über 100 Jahre bestand. So ist der Scherenschnitt nicht nur ein kultur- und familiengeschichtliches Dokument, sondern mittelbar auch mit der Bielefelder Stadtgeschichte verknüpft.