Zinnfiguren •
Als der berühmte Weltreisende Captain James Cook 1772 zu seiner zweiten Reise in die Südsee aufbrach, waren als wissenschaftlicher Begleiter Reinhold Forster und sein erst 17-jähriger Sohn Georg mit an Bord. Der junge Mann besaß großes Beobachtungs- und auch Zeichentalent und hielt die Erfahrungen der Reise in Wort und Bild fest. Nach der Rückkehr veröffentlichte er in London seinen Reisebericht, der 1778/80 in Berlin erstmals in deutscher Sprache erschien. Dort warb wenige Jahre später eine Anzeige für folgendes Weihnachtsgeschenk: „Abbildung merkwürdiger Völker und Thiere in Zinn nebst Beschreibung ihrer Lebensart von dem Herrn Prof. Forster“.
Diese Anzeige macht zwei Dinge deutlich: Zum einen sind Zinnfiguren weitaus mehr als der stereotyp gebrauchte Begriff des „Zinnsoldaten“ vermuten lässt, zum anderen waren und sind sie ein Abbild der jeweils gegenwärtigen Welt. Ihre Geschichte reicht in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück und führt nach Nürnberg. Die fränkische Reichsstadt war ein traditionsreiches Zentrum aller Arten von Metallgewerbe, darunter auch der Zinngießerei. Der Siegeszug des Porzellans und verschiedene Kriege, die den Export von Zinngeschirr und –gefäßen hemmten, brachten dieses Gewerbe in die Krise. Die Zinngießer suchten nach neuen Absatzmöglichkeiten und verlegten sich auf Spielzeugartikel wie Puppenstubeninventar und Zinnfiguren. Die Brüder Johann Gottfried und Johann Georg Hilpert waren die ersten, die flache Figuren mit einem Fußbrett zum Aufstellen produzierten.
Nürnberg und das benachbarte Fürth bildeten den Schwerpunkt der Zinnfigurenherstellung in Deutschland. Die Werkstätten, Offizinen genannt, hatten in den in Schiefer gravierten Gussformen ihren größten Schatz, der ständig um neue Modelle erweitert wurde. In den Betrieben, aber vorwiegend in Heimarbeit waren Frauen, oft unterstützt von ihren Kindern, mit der Bemalung beschäftigt. Dabei gab es Qualitätsstufen zwischen „ordinär“ und „sehr fein“. Die Figuren wurden zu Serien oder vielteiligen Ensembles zusammengestellt und gepolstert in Spanschachteln verpackt, die man meist aus Thüringen bezog.
Im Kaiserreich stellten Soldaten, mit denen ganze Heere nachgebildet werden konnten, einen wesentlichen Anteil an der Zinnfigurenproduktion und fehlten in kaum einem bürgerlichen Kinderzimmer. Der Gedanke der „Welt in der Spanschachtel“ blieb dennoch lebendig, wie unsere fünf Figuren beweisen. Sie stammen aus der Offizin von Georg Spenkuch in Nürnberg, die 1854 als „Nürnberger Compositionsfigurenfabrik“ gegründet wurde. Unter der martialischen Schutzmarke „Platzende Bombe“ erwarb sie sich in Fachkreisen großes Ansehen. 1910 hieß es in einem Branchenverzeichnis: „Ein besonderer Spezialartikel sind „Eisenbahnfiguren“, ein Artikel von werbender Kraft. In demselben Masse wie die Aufnahme der Kindereisenbahnen zunimmt, steigt auch der Umsatz in diesen „Eisenbahn-Figuren“, von denen ein Karton, ausser dem Bahnpersonal, alle charakteristischen Typen unseres heutigen Reise-Publikums wiedergibt.“ Tatsächlich sind sie fein beobachtet, die Wintersportler, der Bauer mit Stecken und Tuchbeutel und der schwergewichtige Herr auf der Personenwaage. Die Firma Spenkuch hatte sogar Soldatenfiguren im Programm, die mit einem hochgeschleuderten Bein den preußischen Stechschritt durch den Kakao zogen – Zeitkritik in Zinn sozusagen.